Der Letzte seines Standes „Schuhmacher Kalla“


„Schuhmacher Kalla“ in Freigericht-Bernbach

„Schuhmacher Kalla“ gilt bis heute im Freigericht-Dorf Bernbach und darüber hinaus sozusagen als ein fester Markenzeichen-Begriff, mit dem eine urige dörfliche – leider vor dem Aussterben stehende – Institution beschrieben wird. „Ich bin Schuhmacher, nicht Schuster!“, so der 77-jährige Karlheinz Aul, dabei augenzwinkernd ergänzend, dass „Schustern“ im Laufe der Zeit zu einem Negativbegriff geworden sei, der „seinem“ Schuhmacher-Handwerk eigentlich nicht gerecht werde. Geht es um „Kalla“ oder einfach nur um den „Schuhmacher“, weiß jeder im Dorf, wer gemeint ist. Und ebenso kennt man auch das „Atelier“, die historische Werkstatt, die sich in ihrem Interieur seit ihrer Gründung durch Großvater Karl Aul (Schusterkarl) Ende des 19. Jahrhunderts nur wenig verändert hat.

„Schusterkarls“ zu Großvaters Zeiten

Beim Eintritt in Kallas Atelier steigt einem sofort der aus eigenen Kindheitstagen altbekannte typische Geruch von Leder und Klebemitteln in die Nase. Als in Bernbach Aufgewachsener und nach der Somborner Lateinschule nach Fulda Ausgewanderter, nunmehr ebenfalls jenseits der 70, habe ich die in Kindheitstagen vertraute Werkstatt mehr als 50 Jahre nicht mehr betreten. Und doch wirkt alles unverändert.

„Zu verdienen ist damit nichts mehr. Das Ganze ist mir großes Hobby, gewissermaßen Lebensinhalt in Abwicklung“, sagt Kalla mit einem leichten Anflug von Entschuldigung für die Bewahrung des Alten. Und beim Gespräch mit ihm wird deutlich: Traditionelle Handwerksbereiche dieser Art sind Wurzeln unserer Kultur. Es geht um Einfaches, Naheliegendes, ja Geniales, das über Jahrhunderte erprobt und gewachsen ist. Es geht um elementare Handgriffe, Materialien und Techniken, aber auch um eine Art Lebensphilosophie. Die innere Ruhe des Schuhmachers wird deutlich, wenn einer der nicht mehr so zahlreichen Kunden den Raum betritt und mit ihm ins Gespräch kommt. Da zeigt sich, dass es zumindest ansatzweise noch etwas gibt, das kommunikative Dorfkultur einmal ausgemacht hat. Die wenigen Euro Arbeitslohn für das Nähen einer Handtasche oder eines ausgerissenen Schuhleders sind da völlig nebensächlich. Gelegentlich bringt man auch noch Schuhe zum Besohlen; noch vor dreißig Jahren war das die Hauptarbeit. In Zeiten der Wegwerfschuhe geht es allerdings meist nur noch um kleinere Reparaturarbeiten, um „meinen Service“, wie Kalla es nennt.

Als Großvater Karl Aul 1943 starb, übernahm dessen Sohn Adolf die Werkstatt; schon als Kind arbeitete Kalla bei Onkel Adolf begeistert mit. 1957 begann Kalla seine Ausbildungsjahre als Orthopädie-Schuhmacher bei Schuh-Kreuder in Gelnhausen. Prüfungsstücke der damaligen Zeit waren noch komplett handgefertigte Schuhwerke. Nach dem Tod von „Schusterkarls Adolf“ in den frühen Siebzigern übernahm Kalla – wegen einer körperlichen Beeinträchtigung inzwischen frühverrentet – den kleinen Betrieb und führte ihn so bis in die heutige Zeit. Schon Ende der neunziger Jahre konnte es dabei nicht mehr um Lebensunterhalt gehen; das Positiv-Nostalgische trat in den Vordergrund, so sehr, dass selbst das Hessen-Fernsehen den „Letzten seines Standes“ in eine breite Öffentlichkeit brachte.

Und so ist das Bernbacher Atelier mehr und mehr zu einem kleinen Heimatmuseum und dörflichen Kommunikationszentrum geworden. Man kann die alten Werkzeuge noch bestaunen, wenn man sie von Kalla erklärt bekommt: den Zweifuß, die Leisten, das Schusterpech, die Ahle oder auch zwei historische Adler Schumacher-Nähmaschinen aus den dreißiger Jahren. In der aufgeräumten Unordnung des Ateliers hat alles seinen geordneten Platz, zumal wenn es noch genutzt wird. Aber so manches Utensil – heutzutage nicht mehr in Gebrauch – scheint noch am gleichen Ort zu liegen, wo es Großvater Karl oder Schusterkarls Adolf damals aus den Händen gelegt hat.

Auch Kalla hat den berühmten Schuhmacherblick bis heute beibehalten. „Zeig mir deine Schuhe, und ich sage dir, wer du bist.“ Auch wenn sich die gesellschaftliche Stellung heutzutage nicht mehr am Schuhwerk ablesen lässt, so manches von der Persönlichkeit des Trägers erkennt das geübte Auge Kallas auch heute noch, wenn es zunächst nach unten schaut. Wer heute zu ihm ins Atelier kommt, tut es allerdings nicht immer wegen des Services. So mancher liebt einfach das Gespräch mit Kalla, seinen manchmal scharfzüngigen Humor, sein Insider-Wissen um alle Vorgänge im Dorf und seine beispielhafte Art, trotz körperlicher Einschränkung Lebensfreude und Ausgeglichenheit auszustrahlen. Dem entspricht auch seine langjährige Mitgliedschaft in verschiedenen Bernbacher Vereinen; dem Sportverein 1919, dem Musikverein oder dem Gesangverein „Teutonia“ – ihm gehört er jeweils länger als ein halbes Jahrhundert an, wie die zahlreichen Urkunden an den Wänden im Atelier belegen. So kann es durchaus auch passieren, dass man die eine oder andere Fußballgröße aus der Glanzzeit des SV 1919 Bernbach in den neunziger Jahren – wie zum Beispiel den damaligen Bernbacher Erfolgstrainer und Fußballnationalspieler Ronnie Borchers – zu Besuch in der Schusterwerkstatt antrifft.

Die Bindungen zur Persönlichkeit „Kalla“ halten meist ein Leben lang. Zweifelsohne ist der Gesangverein „Teutonia“ Bernbach (familiär bedingt, denn in Bernbach „vererbte“ sich in der Regel die Mitgliedschaft in einem der beiden großen Männerchöre) neben der Werkstatt der zweite große Lebensinhalt von Kalla. Ein im Atelier hängendes Poster aus den frühen sechziger Jahren zeigt ihn mit „seinem“ Chor im Bonner Palais Schaumburg bei einem Ständchen für den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer mit der Inschrift: „So begann sie – unsere gemeinsame Ära!“. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Kalla Aul im Sommer mit seinem Gesangverein sozusagen einen Tag der offenen Atelierstür mit Kallas Hoffest veranstaltete, zu dem sich zahlreiche Freunde des Hauses und darüber hinaus viele Besucher aus den umliegenden Gemeinden einfanden, sicher auch, um hier noch sichtbare Wurzeln unserer Kultur zu reflektieren und in unsere Zeit zu übertragen. Nach 18 Jahren „Kallas Hoffest“ wurde diese dörfliche Tradition – dem fortgeschrittenen Alter Kallas geschuldet – im Jahr 2018 beendet.

Auch jenseits der 75 und nach ersten altersbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Jahr 2019 sitzt Karlheinz Aul nunmehr wieder in seinem Atelier, sehr zur Freude seiner „Beermicher“ und Freigerichter Kundschaft, die in ihm viel mehr sieht als nur den Leder-Reparateur. „Irgendwann wird demnächst Schluss sein müssen“, sagt er, den Realitäten ins Auge blickend. Kalla und seine Werkstatt sind mehr als nur ein nostalgischer Blick in die dörfliche Historie, Kalla und sein Atelier sind „Beermicher“ und Freigerichter Markenzeichen, denen man nachtrauern wird, wenn es sie demnächst nicht mehr geben wird.

Verfasser: Alois Hofmann